Montag, 19. Dezember 1988
Von Boracay nach Caticlan
6:00 Uhr morgens. Schon vor einer Stunde hat bei mir der Wecker geschellt, weil ich auf gar keinen Fall das Tricycle zum Jetty Port, dem Ort, wo die Auslegerboote abfahren, verpassen will. Ich will nämlich heute noch nach Caticlan und dann mit dem Bus mehr als 200 km über die Insel nach Iloilo und morgen nach Negros, wo es deutsche Dampfloks geben soll, die dort auf Zuckerrohrfeldern immer noch im Einsatz sind. Ich hoffe, dass alles wie geplant klappt und ich die Loks sehen kann.
Das Tricycle knattert durch enge und unbefestigte Straßen in einer Weise Richtung Süden, dass man glaubt, Beifahrer in einem Motocross Gespann zu sein. Aber das wollte ich ja: Abenteuer! Wir passieren einige Dörfer und ich frage mich, warum das Trike nicht über den festen Sand des White Beach fährt. In Malay heißt es dann umsteigen in ein kleines Auslegerboot und dann 45 Minuten Überfahrt nach Caticlan. Komfortabel ist die Überfahrt wahrlich nicht. Das Boot ist klein, es regnet, der Wind bläst kräftig und das Meer ist extrem unruhig. Folglich sind wir, d.h. die Passagiere und deren Gepäck ziemlich nass.
Im Mini-Bus nach Kalibo
In Caticlan steht der Mini-Bus ins 70 Kilometer entfernte Kalibo schon bereit. Die Scheiben des Minibusses – dieser Bus hat jetzt ausnahmsweise mal welche – sind bis oben hin so beschlagen, dass man von den tropischen Wäldern, den Reisfeldern und den kleinen Dörfern, die es draußen geben soll, absolut nichts mitbekommt. Dass es aber immer noch regnet, wie ab, das ist zu hören. Die Fahrt ist ein ständiges Ruckeln und Schlingern. Dass man nichts sieht, macht die Sache nur noch unangenehmer. Man kann nur ahnen, wie die ungefestigte Straße bei diesem Regenwetter aussieht.
Die Bezeichnung „Minibus“ ist übrigens auch voll zutreffend. Die Sitzreihen stehen so eng, dass ich mit meinen 1,86 beim besten Willen nicht weiß, wo ich meine Beine hinstellen soll. Die Fahrt wird für mich zur Tortur. Ich konnte ja nicht ahnen, dass die den Bus aus einem Kinderkarussell ausgebaut und motorisiert haben. Aber dass die Philippinos, was Autos anbelangt, kreativ sind, habe ich ja in Puerto Princesa gesehen. Hintern und Beine sind schon lange eingeschlafen. Wer bisher noch keine Thrombose hatte, der bekommt sie hier mit Sicherheit. Endlich, nach fast drei Stunden in unbeweglicher Sitzhaltung stoppt der „Kinderkarussell-Bus“ in der „Roxas Avenue in Kalibo“. Ich schäl’ mich wie ein Insekt aus der Verpuppung und versuche mich zu strecken und Blut in meine Adern zu pumpen.
Bis zur Abfahrt des Busses nach Iloilo habe ich noch etwas Zeit. Ich muss dringend was trinken und was essen. Der „leere“ Kaffee , der heute früh in einer Thermoskanne auf meiner Veranda stand, war einfach zu wenig. Ein Baguette vielleicht oder eine Scheibe Brot, mehr will ich ja gar nicht.
Der lange Weg nach Iloilo
Die Weiterfahrt nach Iloilo erfolgt später mit der R&K-Liner-Company. Deren Busse sollen dann, nachdem ich bis hierher zusammengefaltet wurde, große Luxus-Comfort-Busse sein. Abfahrt ist um zwölf Uhr in der Martys Street, drei Querstraßen weiter südlich. Bis 12:00 Uhr habe ich noch etwas Zeit, trotzdem nutze ich die Regenpause und mache ich mich gleich auf den Weg dorthin. Nach etwas zehn Minuten bin ich dort. Besonders praktisch: In der Martys Street befindet sich das „Peking House“, wo ich nicht nur in Ruhe etwas essen kann, sondern auch die Haltestelle der R&K-Liner immer im Blick habe.
Um 12:00 Uhr geht’s dann endlich los. 160 Kilometer liegen noch vor uns, was etwa der Strecke Stuttgart-Würzburg entspricht. In Deutschland braucht man dazu vielleicht 1½ bis 2 Stunden. Davon kann man auf den Philippinen aber nur träumen. Mal sehen, wie lange es hier dauert. Dann kommt er, der Bus. Sicher, er ist jetzt größer als der von heute morgen (etwa 50 Leute passen rein), aber von „Comfort“-Bus kann man auch hier nicht sprechen. Inzwischen regnet es wieder. Die ohnehin schlechten Straßen, die größtenteils aus festgefahrener Erde bestehen, verwandeln sich nun in schlammige Pisten. Mehr als 40 oder 50 km/h sind da nicht drin.
Einmal muss der Bus unterwegs sogar anhalten und der Fahrer und sein Helfer aussteigen, um zu prüfen, ob die Straße überhaupt passierbar ist. Dann muss der Busfahrer entscheiden, ob er es wagt, oder ob wir einen Umweg fahren müssen. Das ist aber nur eine Pro-forma-Sache. Natürlich fährt er weiter. Dass er das nicht packt, die Blöße gibt sich ein Philippino nicht. Während es draußen nur so schüttet, kämpfen wir hier drin mit der feuchten Luft. Die Kleidung und das Gepäck der Passagiere beginnen langsam zu müffeln, nach nasser Erde und erkaltetem Schweiß. Kurz nach zwei haben wir Dao passiert und um halb drei machen wir in Dumarao eine Pause. Etwas mehr als die Hälfte haben wir hinter uns.
Pause in Dumarao
In Dumarao gibt es bei fliegenden Händlern Snacks, Ananas und Cola. Obwohl es regnet, geh ich raus, Beine vertreten und für kleine Jungs. Noch rund 70 Kilometer bis nach Iloilo. Zeit, dass ich mich mal schlau mache, was da auf mich zukommt. Jens Peters Reiseführer ist da immer eine gute Hilfe. „Iloilo“, steht da, sei auf die Form des zwischen dem Iloilo- und dem Batiano River liegenden Stadtkerns zurückzuführen, der angeblich wie eine Nase (philippinisch: Ilong) aussehen soll.
Doch, wenn ich die Karte so betrachte, sehe ich eher den in seiner Form wie Istrien aussehenden „Zipfel“ des Stadtteils Lapuz, der sich wie eine „Nase“ in die V-förmige Bucht der Halbinsel City Proper schiebt. Lapuz und City Proper sehen dann aus wie zwei ineinander ragende Puzzle-Teile, die nur durch den 100 Meter breiten Iloilo-River voneinander getrennt sind. Nach meiner Interpretation müsste Iloilo dann eher Palaisipan (Puzzle) heißen. Aber letztendlich ist das ja auch egal, denn der Stadtplan lässt ohnehin viel Raum für Fantasie und lädt dazu ein, sich schon vor dem ersten Besuch ein eigenes Bild zu machen.
Um drei geht’s weiter. 15 Minuten später passieren wir Passi City (wie passend) und nach einer weiteren Stunde Pototan. Die Fahrt zieht und zieht sich. Die Leidensfähigkeit der Passagiere wird auf eine harte Probe gestellt. Aber trotz der Unannehmlichkeiten ist ein Gefühl da von Abenteuer. So eine Überland-Bus-Fahrt auf Schlammpisten habe ich schließlich auch noch nie gemacht.
SM City Iloilo
Nach einer unendlich lang erscheinenden Schlammfahrt – die gesamte Reise hat länger gedauert als ursprünglich gedacht – hält der R&K-Liner schließlich vor einem riesigen Einkaufszentrum „SM City Iloilo“ an.
9½ Stunden sind inzwischen vergangen seit der Abfahrt heute früh in Boracay. Fast ein ganzer Tag! Für 226 Kilometer! Okay, wir haben zwischendurch mal Pausen gemacht, dennoch: Die Stunden zogen sich, und auf der ganzen Fahrt man konnte sich nie sicher sein, wann und ob wir überhaupt ankommen würden.
Hier im „SM“ werde ich sicher Batterien bekommen. Aber erst mal aussteigen und durch die „Kofferträger“ hindurch kommen, die auch hier auf die schnelle Mark mit Touristen hoffen. Ich bin gerädert und spür’ sämtliche Knochen einzeln. Jetzt darf mir ja keiner blöd kommen, das wär nicht angenehm für den. Ich glaub, die „Kofferträger“ merken das, auch wenn ich nichts sag.
Ein kurzes Telefonat nur
Was mir im SM-Markt als allererstes auffällt, ist ein Philippine Long Distance Telephone Office. Ich schau auf die Uhr. Halb fünf? Das dürfte halb zehn in Deutschland sein. Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl ist. Bärbel ist um die Zeit sicher in der Praxis.
Ich gehe an den Schalter und melde mit Bärbels Nummer einen sogenannten „3-Minutes-Person-to-Person-Call“ an. Das kostet mit 284 ₱, etwa 25 Mark, nicht gerade wenig, aber es muss jetzt einfach sein. Hintergrund ist, dass es vor acht Tagen – dem Tag, an dem ich 450 km südwestlich davon halbtot übers Südchinesische Meer geschippert wurde – bei der Kollision eines Passagierschiffs mit einem Frachtschiff vor Mindoro 30 Tote und zahlreiche Vermisste gegeben haben soll. Wenn meine Mutter das hört – sie hat ja keine Vorstellung davon, dass auf den Philippinen täglich etwa 500 – 1.000 Fähren und doppelt so viele kleinere Boote (Pumpboats) unterwegs sind – macht sie sich sicher Sorgen.
Nachdem ich gezahlt hab, werde ich in eine Kabine geschickt. Dort warte ich auf die Verbindung. Obwohl ich wusste, was kommt, bin ich dermaßen erschrocken, als dann plötzlich der Apparat klingelte, Ich hob ab und eine Stimme sagte: „You can speak now!“ – „Hallo, hallo Bärbel, bist Du’s? Ich bin’s, Rüdiger, wollt’ nur mal deine Stimme hören.“ Man kann richtig hören, wie baff Bärbel ist. „Ich, ich – hab schon 8 Postkarten von dir bekommen!“ „Schön, dass sie angekommen sind. Bärbel, ich hab nur 3 Minuten! Sag allen, dass es mir gut geht.“ „Was machst du gerade? Wie ist das Wetter?“ „Ich hab’ grad eine Neuneinhalb-Stunden-Busfahrt hinter mir, bin jetzt in Panay. Abenteuer pur, Bullenhitze, Jetzt suche ich mir ein Hotel.“ „Hast du Jane getroffen, hast du was Besonderes erlebt?“ „Wahnsinn! Kann ich gar nicht alles erzählen, Grüß Hilde.“ „Mach ich, versprochen. Ich vermiss’ dich.“ „Tuut, tuuut, tuuuut …“ Man glaubt nicht, wie kurz drei Minuten sind, dennoch bin ich total happy. Das Besetztzeichen jetzt bedeutet doch nur, dass das Gespräch zu Ende ist, aber der Moment des Glücks, der bleibt für immer.
Batterien – Lebensgeister für Walkman und Kamera
Im SM bekomme ich dann endlich auch Batterien, wenigstens für die Top Shot und den Walkman. AAA-Batterien gibt es hier aber auch nicht. Nach dem Einkauf und dem Telefonat nehm’ ich ein Tricycle zum Iloilo-Lodging House in der Aldeguer-Street. Dort werde ich heute übernachten. Gerade als die Sonne untergeht, sind wir da. Das Iloilo-Lodging House ist nichts Außergewöhnliches, die Nacht im Lodging House kostet 70 ₱ (6 DM), die Zimmer sind ganz ordentlich und vor allem: Es gibt eine Dusche mit einem dicken Wasserstrahl allerdings für den ganzen Stock gemeinsam. Einen großen Nachteil hat das Haus dann aber doch: Es ist laut hier, und in der unmittelbarer Nähe des Flusses gibt es „Trilliarden“ von Stechmücken. Heute Abend findet im Iloilo-Lodging-Houses ein sogenanntes „Singalong“ statt. Dabei kann jeder Gast, wenn er denn möchte, zu Musik vom Band sein Lieblingslied durchs Mikrofon grölen. „Karaoke“ nennt man das. Manche drängen sich dabei richtig vor: Eine mollige Frau z.B. meint mehr schlecht als recht, dass sie „Simply the best“ sei und zwei angeheiterte Typen sind der Ansicht, sie seien – ähnlich wie die 4 Musiker von Queen – „the Champions“. Andere werden vom Disc-Jockey regelrecht genötigt. Jetzt ist einer mit „It’s now or never“ d’ran und anschließend erfahren wir, dass „Puff, the magic dragon“ „by the sea“ lived.
Da zuzuhören ist ja ganz lustig, vor allem, wenn dazu das eine oder andere Bier durch die Kehle läuft. Selber singen wär aber niemals was für mich. Ich wüsste auch gar nicht, was ich singen sollte. Das Einzige, das ich aus der „Play-Back-Kiste“ kenne und das ich mir zutrauen würde, ist Frank Sinatras „New York, New York“. Zum Glück aber geht der Kelch an mir vorbei, denn ich kann mit diesem erzwungenen Tun überhaupt nichts anfangen. Eine Pinkelpause nutz ich, mich „französisch“ zu verabschieden. Ich lieg zwar jetzt im Bett, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die Musik plärrt, dass die Wände wackeln und die „Moskitos“ nerven. Aber ich hab ja meine Turnschuhe.
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